China-Update: Was bedeutet „gemeinsamer Wohlstand“ für Anleger in Unternehmensanleihen?



Die chinesischen Behörden haben in den letzten Monaten zahlreiche neue Regeln und Vorschriften erlassen. Viele Marktbeobachter sprechen in diesem Zusammenhang von einem „regulatorischen Neustart“ der Volksrepublik. Die Veränderungen sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden. In ihnen spiegelt sich unseres Erachtens ein neues Paradigma staatlichen Handelns wider, bei dem es im Kern darum geht, das chinesische Wachstumsmodell neu zu definieren. Die Auswirkungen auf das globale Wachstum werden erheblich sein.

Um den Wandel zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, welche Faktoren Chinas Wirtschaftswachstum in den vergangenen 10 bis 15 Jahren massgeblich bestimmt haben und welche strukturellen Veränderungen in der Folge eingetreten sind. Im Zeitraum von 2000 bis 2009 lag das durchschnittliche BIP-Wachstum der Volksrepublik bei 10.4% im Jahr. Dieses rasante Wachstum schwächte sich im darauf folgenden Jahrzehnt ab, doch mit 7.7% p. a. wuchs die chinesische Wirtschaft weiter in hohem Tempo. China war in diesem Zeitraum so etwas wie der Motor des globalen Wohlstands, mit einem Beitrag zum weltweiten BIP-Wachstum von 28% zwischen 2013 und 2018 (laut Zahlen des IWF).

Bedeutendster Wachstumstreiber: Immobilien
Herzstück des chinesischen Wachstumsmotors war, was die Financial Times treffend mit „Build, Build, Build“ beschrieb – im Immobiliensektor entfaltete sich eine besonders starke Dynamik. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung trug die Immobilienbranche fast 29% zu Chinas Wirtschaftsleistung bei (inzwischen ist der Anteil nach unseren Schätzungen auf 20-25% gesunken). Immobilienentwickler konnten fast beliebig hohe Kredite für den Kauf von Grundstücken aufnehmen, und die Erlöse aus solchen Verkäufen dienten wiederum dazu, die Budgets der Kommunalverwaltungen zu finanzieren. Die Folge war ein gewaltiges Überangebot an Immobilien, die viele Chinesen als Mittel zum Vermögensaufbau nutzten. Das Überangebot wurde so gigantisch, dass die unverkauften Wohnflächen eine Grössenordnung von drei Milliarden Quadratmetern erreichten – genug, um 30 Millionen Familien zu beherbergen (ein chinesischer Haushalt besteht im Durchschnitt aus drei Personen). Ein Grossteil dieses Wachstums wurde mit Schulden finanziert, und kein Unternehmen verkörpert diese exzessive Entwicklung besser als Chinas grösster Immobilienentwickler Evergrande, dessen Schuldenlast von 1.7 Mrd. USD im Jahr 2007 auf 110 Mrd. USD Ende 2020 emporschnellte.

Rückgang der Geburtenrate lässt Nachfrage nach Immobilien sinken
Das beispiellose Wirtschaftswachstum hatte auch bedeutende Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft. So sank die Armutsquote von fast 16% im Jahr 2010 auf mittlerweile fast Null (siehe Abbildung 1). Es handelte sich um die wohl weitreichendste Verbesserung des Lebensstandards in der Geschichte der Menschheit. Der Kontrast beispielsweise zu Indien könnte kaum grösser sein, und nur Brasilien unter seinem ehemaligen Präsidenten Lula da Silva kam einer vergleichbaren Transformation auch nur nahe. Die Verbesserung der Lebensbedingungen hatte jedoch ihren Preis. Sie ging mit einem stagnierenden Bevölkerungswachstum einher – 2020 kamen in China nur zwölf Millionen Babys zur Welt. Dieser Trend wird sich im nächsten Jahrzehnt noch verschärfen, da die Zahl der Frauen im besten gebärfähigen Alter – zwischen 22 und 35 Jahren – um mehr als 30% sinken dürfte (eine Folge der Ein-Kind-Politik). Einige Experten erwarten einen weiteren Rückgang der Geburtenrate, was zu einem Schrumpfen der chinesischen Bevölkerung führen und die Immobiliennachfrage zusätzlich dämpfen würde. Neben dem demografischen Wandel ist ein deutlicher Anstieg der sozialen Ungleichheit zu verzeichnen, wie ihn Abbildung 2 sichtbar macht. Chinas Regierung steht somit vor einer schwierigen Frage: Wie kann das Bevölkerungswachstum wieder angeregt, die soziale Ungleichheit verringert und die Nachhaltigkeit der bisher vom schuldenfinanzierten Wachstum im Immobiliensektor abhängigen Wirtschaft gestärkt werden?

Abbildung 1: Jahrzehntelanger Kampf gegen absolute Armut

Quelle   CEIC, Morgan Stanley Research

 

Abbildung 2: Pekings neue Prioritäten: Soziale Gleichheit, Datensicherheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit

Quelle   CEIC, Morgan Stanley Research

 

Die Kampagne der Kommunistischen Partei Chinas unter dem Schlagwort „gemeinsamer Wohlstand“ zielt sichtlich darauf ab, Lösungen für viele der genannten strukturellen Probleme zu finden. Im Kern geht es um soziale Ungleichheit, nachhaltiges Wachstum und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Massnahmen im Bildungssektor sind darauf ausgerichtet, die Kosten für das Grossziehen von Kindern und den Unterhalt einer Familie zu senken. Im Immobiliensektor will Peking erreichen, dass Eigentumswohnungen nicht mehr als Mittel zum Vermögensaufbau genutzt werden.

Was bedeutet das alles für Anleger in Unternehmensanleihen?
Fest steht, dass China im kommenden Jahrzehnt ein geringeres Wachstum verzeichnen wird. An die neuen wirtschaftlichen und regulatorischen Realitäten werden sich die Geschäftsmodelle anpassen müssen (Abbildung 3). Von der massiven Neubewertung angesichts der Bemühungen des Markts, zwischen zukünftigen Gewinnern und Verlierern zu differenzieren, sind Hochzinsanleihen im Immobiliensektor besonders betroffen (Abbildung 4). Wer bereit ist, die damit verbundene höhere Volatilität in Kauf zu nehmen, dürfte das Renditeprofil von Hochzinsanleihen chinesischer Immobilienunternehmen sehr interessant finden. Die in dem Sektor erzielbaren Renditen stehen im Einklang mit dem höheren Geschäftsrisiko.

Abbildung 3: BIP-Wachstum in China bei unterschiedlichen Szenarien – regulatorischer Neustart könnte Investitions- und Produktivitätswachstum bremsen

Quelle    NBS, Schätzungen von Morgan Stanley Research (E)

 

Abbildung 4: Endfälligkeitsrenditen von Hochzinsanleihen im chinesischen Immobiliensektor

Quelle    Bloomberg

 

Fazit
Es ist und bleibt essenziell, den Blick auf die Fundamentaldaten zu richten und Unternehmen ausfindig zu machen, die die richtige Mischung aus solider Bilanz und Liquidität verkörpern und dadurch gute Chancen haben, die schwierige derzeitige Phase zu überstehen. Für privates Kapital gibt es in dem Sektor zweifellos einen Platz, und wir sind davon überzeugt, dass die Gewinner Gelegenheiten haben werden, ihren Marktanteil zu vergrössern und nachhaltiger zu wachsen, als ihnen dies in der Vergangenheit möglich war.

 

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